21 – Wagenlenker von Delphi
Abguss des Wagenlenkers von Delphi, Nr. 101
Foto: Walerija LatermannAbguss-Inventar Jena: Nr. 101
Erwerb: 1899 aus Mitteln der Akademischen Rosenvorlesungen
Abguss nach: Delphi, Museum Inv.-Nr. 3484, 3520 und 3540; Inschriftenblock: Delphi, Museum lnv.-Nr. 3417 // Bronze // Datierung: um 470 v. Chr.
Ergänzungen: der linke Unterarm fehlt
Fundort: Delphi (Griechenland), Apollonheiligtum, Stützmauer im Norden des Tempels
Höhe: 1,80 m
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Der sog. Wagenlenker von Delphi ist eine Bronzestatue, die zu einem Wagengespann gehörte, das vermutlich aus vier Spannpferden, zwei Beipferden mit Pferdeführern und einem Lenker, einem jungen bartlosen Mann auf einem einachsigen Wagen, bestand. Entdeckt wurde die Gruppe im Frühjahr 1896, wobei der Wagenlenker in Einzelstücken verstreut über zehn Meter Entfernung und drei Höhenmeter aufgefunden wurde. Ursprünglich war er aus sieben starkwandig gegossenen Bronzeeinzelteilen zusammengesetzt. Details wie Zähne, Augen oder das Muster der Siegerbinde um seinen Kopf waren aus anderem Material (Silber, Kupfer oder Glasfluss) eingesetzt.
Nach der Zusammenfügung der Statue erschloss sich die Funktion: Der junge Mann trägt das charakteristische Wagenlenkergewand (Xystis) und einen langen Chiton mit hoher Gürtung. Außerdem wurden neben dem Lenker auch Bronzeteile von Pferden (Beine bzw. ein Schweif), ein Kinderarm (wohl vom Führer eines Beipferdes) sowie ein Stück einer Kalksteinplinthe gefunden, deren Oberseite Einlassspuren aufweist. Die Bronzefiguren waren mit Metalldübeln auf den Steinplatten befestigt, der Wagenlenker ebenso mit je zwei Dübeln pro Fuß auf seinem Wagen. Beim Jenaer Abguss ist das nicht mehr zu erkennen: hier ist der Lenker mit einer Gipsplinthe zusammen gegossen.
Auf der schmalen Vorderseite der Steinplatte haben sich zwei Zeilen mit dem Rest einer Weihinschrift erhalten:
[Π]ΟΛΥΖΑΛΟΣ Μ’ ΑΝΕΘΗΚ[Ε...Τ]ΟΝ ΑΕΞ ΕΥΟΝΥΜ’ ΑΠΟΛ
[-P]olyzalos hat mich aufgestellt [...]
[---] ihm sei Apoll(on} mit dem heiligen Namen immer günstig.
Ein Mann namens Polyzalos ist zwar als Bruder des Tyrannen Hieron von Gela auf Sizilien (Regierungszeit 485–466 v. Chr.) bekannt, ein Wagensieg ist für ihn aber nicht überliefert. Es ist allerdings möglich, dass Polyzalos diese Wagengruppe zu Ehren seines Bruders nach Delphi stiftete, der im Jahr 468 v. Chr. bei den Pythien, den panhellenischen Spielen in Delphi, im Wagenrennen siegte. Nach der Vertreibung des Hieron aus Gela im Jahr 466 v. Chr. wurde die Inschrift vermutlich verändert und der Hinweis auf den Tyrannen durch die Namensnennung des Polyzalos ersetzt.
Die Herstellung und Weihung der Bronzegruppe lassen sich zeitlich auf die Jahre 478 bis 468 v. Chr. eingrenzen. Pythagoras von Rhegion wird als Künstler diskutiert. Die Großbronze stellt nicht Hieron selbst, den Besitzer des Gespanns, dar, sondern seinen Wagenlenker.
Der Fundort lässt sich heute nicht mehr mit Genauigkeit bestimmen, doch ist bekannt, dass sich die Gruppe hinter der Stützmauer (griech. Ischegaion) befand, die die Tempelterrasse von der nächst höhergelegenen Theaterterrasse trennt. Diese Mauer wurde zusammen mit dem spätklassischen Tempel des 4. Jhs. v. Chr. errichtet, nachdem ein Felssturz den älteren Tempel 373 v. Chr. stark beschädigt und vermutlich auch die Wagenlenkergruppe in Mitleidenschaft gezogen hatte. Der Aufstellungsort der Gruppe befand sich daher wahrscheinlich auf der Nordseite des Tempels auf der gleichen Terrasse.
Da die Gruppe als Weihung dem Gott des Heiligtums, also Apollon, gehörte, durfte sie auch nach der Beschädigung das Temenos, also den heiligen Bezirk eines Heiligtums, nicht verlassen. Man legte sie hinter der neuen Terrassenmauer absichtlich nieder und bedeckte sie mit Erde, man bestattete sie sozusagen. Dieser Tatsache und der relativ kurzen Aufstellungsdauer von etwa 100 Jahren (478/468 bid 373 v. Chr.) verdankt sie ihren guten Erhaltungszustand.