6 – Aphrodite von Knidos
Abguss der Aphrodite von Knidos, Nr. 185
Foto: Walerija LatermannAbguss-Inventar Jena: Nr. 185
Erwerb: 1903/1904 aus Mitteln der Akademischen Rosenvorlesungen
Abguss nach: römische Marmorkopie // Rom, Vatikanische Museen Inv.-Nr. 812 // ehemals in der Galleria des Palazzo Colonna in Rom (Italien)
Original: Marmorstatue des Praxiteles // Datierung: um 350 v. Chr. // heute verloren
Höhe: 2,04 m (ohne Plinthe)
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Bei der Vorlage des Jenaer Abgusses handelt es sich um die bekannteste der zahlreichen Kopien der Aphrodite von Knidos. Der Statuentypus wurde aufgrund von Münzprägungen der Stadt Knidos, auf denen die Göttin bzw. nur ihr Kopf abgebildet ist, seit dem 1. Jh. v. Chr. als Aphrodite erkannt.
Der Körper, an dem der Hals, die rechte Hand mit einem Stück des Unterarms, der linke Arm, der rechte Fuß mit einem Stück des Beines, der linke Unterschenkel mit Fuß, beinahe die gesamte Plinthe und Kleinigkeiten an Gewand und Gefäß ergänzt sind, wurde um 1900 mit der Abformung eines Kopfes, der in Tralles in Kleinasien gefunden wurde, versehen. Dieser Kopf, an dem die Nase ergänzt ist, gehörte ursprünglich zu einer anderen Kopie und gelangte in die Sammlung Kaufmann und somit in Berliner Privatbesitz. Obwohl der Kopf mit falscher Neigung aufgesetzt ist, vermittelt die Statue dennoch den besten Eindruck des praxitelischen Originals.
Die diesem Abguss zugrundeliegende originale Marmorstatue der Aphrodite, der Göttin der Liebe, deren Aussehen und Wesen schon Homer als schön und hold lächelnd beschrieben hat, schuf Praxiteles, ein bedeutender athenischer Bildhauer aus dem zweiten Drittel des 4. Jhs. v. Chr. Die Aphrodite von Knidos war sein berühmtestes Werk. Von ihrem Ruhm erzählt Plinius der Ältere im 1. Jh. n. Chr. (Naturalis Historia 36, 20): "Seine Werke befinden sich in Athen auf dem Kerameikos; aber an erster Stelle aller Werke, nicht nur derer des Praxiteles, sondern auf dem ganzen Erdkreis, steht seine Aphrodite, zu der viele nach Knidos fuhren, um sie zu sehen.«
Plinius erzählt weiter, dass Praxiteles zwei Aphroditen gleichzeitig – eine für die Bewohner der griechischen Insel Kos und eine für die Stadt Knidos – entworfen habe. Die eine war verhüllt, die andere war bei der Vorbereitung zum Bade völlig nackt dargestellt. Die Koer wollten aus Anstand und Sittlichkeit die verhüllte Aphrodite kaufen. Die Knidier nahmen die nackte Göttin und stellten sie in einem eigens für sie angelegten Tempel im Heiligtum der Aphrodite Euploia – der Schutzpatronin der Seefahrer – auf, welcher so konstruiert war, dass man sie auch von hinten betrachten konnte.
Die Statue war die erste griechische Großplastik einer nackten weiblichen Figur, die für ein Heiligtum bestimmt war. Damit schuf Praxiteles eine neue Darstellungsform der Aphrodite: Die Göttin wird von da an häufig nackt wiedergegeben. Von der Wirkung der Knidia berichtet Pseudo-Lukian (Erotes 11–17) noch in der Römischen Kaiserzeit:
"Wir beschlossen, in Knidos Anker zu werfen, um das Heiligtum der Aphrodite zu sehen, wo man das von der Meisterhand des Praxiteles geschaffene Kunstwerk preist, das in Wahrheit von der Göttin erfüllt ist, und steuerten in aller Ruhe dem Land entgegen: es war, so stelle ich mir vor, die Göttin selbst, die unser Boot über den blanken Meeresspiegel hinführte. Die gewöhnlichen praktischen Arbeiten den anderen überlassend, nahm ich die beiden Liebesritter [Charikles und Kallikratidas] je unter einen Arm und ging mit ihnen in Knidos herumspazieren, wo ich über die unanständigen Tonfigürchen lachen musste, die man natürlich in der Stadt der Aphrodite antrifft. Zuerst durchwandelten wir die Säulenhallen des Sostratos und die anderen Örtlichkeiten, an welchen wir Vergnügen haben konnten, dann spazierten wir zum Tempel der Aphrodite [...]. Aus dem Heiligtum wehten uns gleich aphrodisische Lüfte entgegen. Der freie Raum war nämlich nicht mit Steinplatten belegt und zu einem unfruchtbaren Fußboden gemacht; im Gegenteil, wie es einem Heiligtum der Aphrodite ziemt, war der ganze Boden erfüllt von angepflanzten Obstbäumen, deren weit ausgebreitete, üppige Kronen ein zusammenhängendes Dach über dem umgebenden Raum bildeten. In überwältigender Fülle gedieh da die fruchtschwangere Myrte, die in der Nähe ihrer Herrin in Menge wuchs, ebenso alle anderen Bäume, die einen schönen Anblick gewähren [...] Unter den schattenreichen Bäumen gab es gemütliche Buden für diejenigen, denen eine fröhliche Zeche gefiel: da kamen nur selten feine Leute aus der Stadt, umso mehr das niedrige Volk, das bei seinen festlichen Gelagen die Verehrung der Aphrodite in der Tat bezeugte. Als wir der Freude über die Pflanzen satt waren, traten wir in die Kapelle hinein. In der Mitte findet sich das Bildnis der Göttin, ein herrliches Kunstwerk aus parischem Marmor, in überlegener Weise und mit sanft geöffneten Lippen leise lächelnd. Kein Gewand bedeckt sie; man sieht ihre ganze Schönheit, nur die eine Hand deckt verstohlen die Scham. Die Kunst des Meisters hat es fertig gebracht, die strittige und harte Natur des Marmors der Form der Gliedmaßen sich fügen zu lassen. Charikles schrie auf wie ein Verrückter: "Der glücklichste von allen Göttern war gewiss Ares, der ihretwegen gefesselt wurde"; gleichzeitig lief er auf die Statue zu und küsste sie mit feuchten Lippen, indem er den Hals so viel emporreckte, als er vermochte. Kallikratidas sagte aber nichts, er stand ruhig da und bewunderte stillschweigend die Statue. Die Kapelle hat eine Tür sowohl an der Hinter- wie an der Vorderseite, für den Fall, dass jemand wünscht, die Göttin auch von der Rückseite genau zu beschauen, um keinen Teil ihrer Gestalt seiner Bewunderung zu entziehen. Man kann also ohne Schwierigkeit, durch die andere Tür eintretend, die Schönheit der Rückseite betrachten. Wir wurden darüber einig, das Bild der Göttin in seiner Gesamtheit zu beschauen, und gingen deshalb herum zur Hinterseite des Tempelraumes, wo die Tür vom Weib, das den Schlüssel verwahrte, geöffnet wurde. Ein plötzliches Erstaunen ergriff uns beim Anblick der Schönheit. Als der Mann aus Athen [scil. Kallikratidas], der eben die Statue betrachtet hatte, ohne ein Wort zu sagen, die Rückseite der Göttin gewahr wurde, schrie er plötzlich viel verrückter auf , als Charaklies es früher getan hatte: "Wie ist der Rücken schön geformt! Wie runden sich die Lenden, zur Umarmung geeignet! Wie herrlich ist der Umriss des Gesäßes, die Muskulatur weder zu knapp, so dass sie sich an die Knochen andrückt, noch zu schwellend oder von übertriebner Fülle! Mit unbeschreiblicher Süße lächeln die zwei Grübchen, die beiderseits, rechts und links, in die Lenden eingedrückt sind, den Beschauer an. Ober- und Unterschenkel, bis zum Fuß gerade ausgestreckt, haben genau dir richtigen Verhältnisse." […] Während Kallikratidas so von Sinnen war und aufschrie, hatte das gewaltige Staunen Charikles fast erstarren lassen, und die Augen wurden ihm vor Bewegung wiederholt feucht." (Übersetzung nach Chr. Blinkenberg)