Undershoot bei Frauen und Männern
Akustischer und artikulatorischer Vokalraum bei Männern und Frauen
Foto: Melanie WeirichHintergrund:
„Undershoot“ beschreibt die verkürzte Ausführung artikulatorischer Bewegungen, bei der etwa die Zunge nicht die volle räumliche Zielposition eines Lautes erreicht. Dieser Effekt tritt typischerweise bei erhöhtem Sprechtempo oder in unbetonten Silben auf. Dabei wird angenommen, dass Sprecher in solchen Kontexten energetisch effizienter artikulieren, was zu einem Kompromiss zwischen Klarheit und Ökonomie führt. Frühere Studien legen nahe, dass solche Prozesse individuell unterschiedlich ausgeprägt sind. Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Frage, ob das biologische Geschlecht ein systematischer Einflussfaktor ist. Die Hypothese: Männer, die in der Regel über einen größeren oralen Artikulationsraum verfügen, zeigen im Verhältnis zu diesem mehr Undershoot als Frauen.
Experimentdesign:
Die Untersuchung basiert auf Sprachdaten von elf deutschen Muttersprachler:innen (6 Frauen, 5 Männer). Ziel war die Analyse der Zungenbewegung bei der Produktion von Diphthongen in unterschiedlichen Akzentbedingungen (betont vs. unbetont). Mittels artikulatorischer Messtechnik wurden die Positionen des Zungenrückens erfasst und mit dem individuellen maximal erreichbaren Artikulationsraum jeder Versuchsperson verglichen. Eine Visualisierung veranschaulicht exemplarisch die Artikulationsdaten eines Mannes und einer Frau. Dabei zeigen sich deutliche Unterschiede: Während die weibliche Sprecherin den vollen Bewegungsraum ausnutzt, bleibt der männliche Sprecher deutlich hinter seinen physiologischen Möglichkeiten zurück – besonders bei tiefen und hinteren Vokalen.
Zungenpositionen im zweidimensionalen Raum eines Sprechers und einer Sprecherin
Foto: Melanie WeirichErgebnisse:
Die Ergebnisse bestätigen sowohl individuelle als auch systematische geschlechtsspezifische Unterschiede. Männer zeigen ausgeprägteren Undershoot – das heißt, ihre artikulatorischen Bewegungen bleiben häufiger hinter den möglichen Extrema zurück. Dies spiegelt sich sowohl in der physischen Artikulation als auch im akustischen Output wider. Auch nach Normalisierung der Daten anhand des individuellen Artikulationsraumes sind die Bewegungen des Zungenrückens bei Frauen insgesamt größer. Bemerkenswert ist zudem, dass Frauen trotz eines kleineren anatomischen Artikulationsraums über einen größeren akustischen Vokalraum verfügen – ein Befund, der auf eine effizientere und zielnähere Artikulation bei weiblichen Sprecherinnen hinweist.
Fazit: Frauen haben einen größeren akustischen Vokalraum trotz eines kleineren artiklatorischen Raumes, weil sie weniger Undershoot zeigen als Männer.
Referenz
:Weirich, M. & Simpson, A. (2018) Individual differences in acoustic and articulatory undershoot in a German diphthong - variation between male and female speakers. Journal of Phonetics 71, 35-50. link zum ArtikelExterner Link