Dr. Daniel Schuch und seine Arbeit mit dem Titel: „Transformationen der Zeugenschaft".

Die Stimmen der Überlebenden

Historiker von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erhält den Irma-Rosenberg-Preis 2022
Dr. Daniel Schuch und seine Arbeit mit dem Titel: „Transformationen der Zeugenschaft".
Foto: Anne Günther (Universität Jena)

Meldung vom: | Verfasser/in: Stephan Laudien | Zur Original-Meldung

Der Historiker Dr. Daniel Schuch von der Friedrich-Schiller-Universität Jena erhält den Irma-Rosenberg-Preis 2022. Gewürdigt wird damit Schuchs Untersuchung über den Wandel von Zeugenschaft des Holocaust. Den Ausgangspunkt bildet das Interviewprojekt von David P. Boder. Der US-amerikanische Psychologe mit lettischen Wurzeln hatte 1946 in Europa Überlebende der Shoa befragt und ihre Erzählungen per Drahttonrekorder aufgezeichnet. Ihm ging es speziell darum, herauszufinden, wie stark die Überlebenden traumatisiert waren. 50 bis 60 Jahre später wurden einige der von ihm Befragten erneut interviewt. Daniel Schuch hat untersucht, wie sich der Blick der Überlebenden auf ihre Erfahrungen und die gesellschaftlichen Erwartungen an ihre Erzählungen verändert haben. Schuchs Arbeit erschien bereits 2021 im Wallstein-Verlag Göttingen unter dem Titel: „Transformationen der Zeugenschaft. Von David P. Boders frühen Audiointerviews zur Wiederbefragung als Holocaust Testimony“.

Lange wollte niemand die Stimmen der Überlebenden hören

Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Frage nach der Entstehung des Zeitzeugen“, sagt Daniel Schuch. Habe es doch einen deutlichen Wandel gegeben von den ursprünglich als Opfer Befragten hin zu den Zeitzeugen, von denen eher eine moralische Zeugenschaft der Menschheitsverbrechen erwartet wird. Diesen Wandel bezeichnet Daniel Schuch als Transformation der Zeugenschaft. Der Psychologe David P. Boder befragte 1946 überlebende Insassen von Konzentrations- und Vernichtungslagern. Deren wortwörtliche Erzählungen standen im Mittelpunkt. Von seinen Audio-Interviews existieren heute digitalisierte Kopien der Originalaufnahmen. In der Nachkriegszeit gab es generell jedoch wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die Perspektive der Betroffenen: „Die Stimmen der Überlebenden wollte lange Zeit niemand hören“, sagt Daniel Schuch. Erst Jahrzehnte später wurden ihre Erzählungen als Quellen wertgeschätzt. Einerseits ausgelöst durch Gerichtsprozesse oder die mediale Präsenz des Holocausts, etwa durch die Serie „Holocaust“. Zugleich der Tatsache geschuldet, dass die Generation der NS-Verfolgten allmählich ausstirbt. Erneut wurden Überlebende interviewt, diesmal zu Zehntausenden, aufgezeichnet per Videokamera. 

Ein gewandelter Blick auf die Opfer und ihre Erfahrungen

„Interessanterweise hatte sich inzwischen der Blick auf die einstigen Opfer gewandelt“, konstatiert Daniel Schuch. Nicht mehr das Bezeugen von individuellen und kollektiven Leiderfahrungen steht im Vordergrund, vielmehr rücken universelle moralische Botschaften von Versöhnung und Toleranz in den Fokus. Zugleich haben sich die Befragten selbst gewandelt. Als David Boder seine Interviews machte, sprach er mit unerwünschten „Displaced Persons“, meist jungen, heimatlosen Menschen, die kaum verstehen konnten, was ihnen widerfahren war. Jahrzehnte später waren die Frauen und Männer gesellschaftlich anerkannte „Survivors“, die fest im Leben standen und ihre Erfahrungen der Nachwelt zur Verfügung stellen wollten. Sie waren nun als „Zeitzeugen“ des Holocaust zur moralischen Instanz geworden. 

Wie Daniel Schuch herausgearbeitet hat, wandelte sich nicht nur der Blick auf die Überlebenden, es wandelte sich auch das Interesse an den Erfahrungen dieser Menschen. Erkennbar an den Fragen, die in den Interviews gestellt wurden. Der Wunsch nach moralischen Botschaften für künftige Generationen stieß in manchen Interviews an Grenzen, weil sich Überlebende gegen solche allgemeinen Botschaften sträubten. 

Die Irma-Rosenberg-Preise für die Erforschung der Geschichte des Nationalsozialismus vergibt die Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte alle zwei Jahre in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, der Kulturabteilung der Stadt Wien und dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung Österreichs. Die beiden Hauptpreise (je 2.000 Euro) teilen sich für das Jahr 2022 Linda Erker (Universität Wien) und Daniel Schuch (Universität Jena). Überreicht werden die Preise am 10. März 2023 in Wien. 

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Daniel Schuch, Dr.
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