Projektlaufzeit:
Seit 2019
Projektleitung:
Prof. Dr. Andrea Meyer-Fraatz
Mitarbeit:
Željana Tunić
Förderung:
DAAD
Projektbeschreibung:
Im Jahr 2019 jährte sich zum dreißigsten Mal der Fall der Berliner Mauer. Wohl kaum ein Ereignis steht derart emblematisch für die tiefgreifenden Wandlungsprozesse, die die östliche Hälfte Europas seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre ergriffen haben und die bis in die Gegenwart fortdauern. Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, die sich mit der politischen Wende verbanden, scheinen inzwischen vielerorts verblasst; im ehemaligen Jugoslawien und den Peripherien der Sowjetunion, wo der Wandel in den 1990er Jahren mit Staatszerfall und Gewaltentfesselung einherging, erschienen derartige Zukunftsversprechen den meisten Menschen ohnehin bald unerreichbar fern. Inzwischen werden die Werte der (friedlichen) Revolutionen im Zuge gefühlter und realer Krisen durch populistische Bewegungen, alt-neue Nationalismen und das Gegenmodell der „gelenkten“ oder „illiberalen Demokratie“ massiv in Frage gestellt. Die Zielvorstellung eines politisch vereinigten Europas hat vielerorts an Attraktivität eingebüßt, ja nicht wenigen Menschen ist „Europa“ zum politischen und kulturellen Feindbild schlechthin geworden.
Wie gehen junge Menschen in der östlichen Hälfte Europas mit den Transformationserfahrungen der letzten Jahrzehnte und dem gegenwärtigen Krisendiskurs um? Welche Vorstellungen, Hoffnungen und Ängste hegen sie hinsichtlich der Zukunft? Und welche Wege finden sie, um dies auszudrücken? Lassen sich diese Erfahrungen länderübergreifend in Beziehung setzen? Existiert hier gar so etwas wie ein osteuropäischer Erfahrungsraum? Diesen Fragen ging das Projekt am Beispiel der Literatur von NachwuchsautorInnen. Räumlich fand eine Konzentration auf hauptstadtferne Peripherien im ehemaligen Jugoslawien, Russland und Ostdeutschland statt.
Literatur bietet Reflexions- und Ausdruckspotentiale, die über die Möglichkeiten der konventionellen Alltagskommunikation weit hinausgehen. In Regionen, in denen der Mediendiskurs politisch zunehmend reglementiert wird, bietet Literatur zudem Freiheiten des Ausdrucks, die andernorts nicht bestehen. Ziel des Projektes war es, diese Räume alternativen Denkens und Sprechens zu vemessen und zu fragen, welche Impulse von Literatur ausgehen können, wenn es um die Stärkung von Pluralismus, Demokratie und Zivilgesellschaft geht. Die Werke junger Autorinnen und Autoren sind dabei von besonderem Interesse, weil es sich hierbei um eine Generation handelt, deren gesamte Kindheit und Jugend in die Transformationszeit fällt und die gleichzeitig von wegbrechenden Zukunftshoffnungen besonders stark betroffen ist. Periphere Regionen schließlich sind für die kulturwissenschaftliche Forschung seit jeher von besonderem Interesse. Im konkreten Zusammenhang dieses Projektes wurde von der Hypothese ausgegangen, dass Transformationserfahrungen in peripheren Regionen besonders einschneidend waren und Krisensymptome dort entsprechend intensiv erlebt werden. Dies macht, so eine weitere Annahme, diese Regionen für autoritär-antidemokratischen Populismen besonders anfällig. Emanziptiv-demokratisches Denken, Schreiben und Handeln bedarf hier einer besonderen Unterstützung, dies umso mehr, als kulturelle Infrastrukturen, die dies ermutigen und stützen könnten, nur schwach ausgeprägt sind.
Das Projekt hatte zwei Säulen: (1) eine literarisch-zivilgesellschaftliche und (2) eine wissenschaftlich-universitäre. (1) Ein parallel in den Partnerländern ausgeschriebener Literaturwettbewerb sollte künstlerische Potentiale aktivieren, zugleich sollte von ihm ein Impuls zur gesellschaftlichen Selbstreflexion ausgehen. Die in diesem Wettbewerb ausgewählten Werke wurden im Original und in Übersetzung in der österreichischen Literaturzeitschrift Lichtungen veröffentlicht. Der Inhalt dieser Anthologie war überdies der Öffentlichkeit auch durch eine Lesung und ein begleitendes Podiumsgespräch am ZOIS (Zentrum für Osteuropäische und Internationale Forschung) im Dezember 2019 in Berlin zugänglich gemacht. (2) Die Übersetzung der Texte fand in einem parallel an den Partneruniversitäten in Deutschland, Ex-Jugoslawien und Russland durchgeführten Seminar statt, an das sich eine internationale Sommerschule in Tivat, Montenegro, im September 2019 anschloss.